9/28/2023

Eine Bahnfahrt - 6 Stunden statt 3 1/2 Stunden

Strecke: Marbach am Neckar – Augsburg: 200km

Normale Fahrzeit mit Nahverkehrszügen: 3:30 Stunden

Fahrzeit am 24.9.23: 6:00 Stunden


Stuttgart Hauptbahnhof

Die S-Bahn hat 10 Minuten Verspätung, die Umsteigezeit am Stuttgarter Hauptbahnhof daher von 17 auf 7 Minuten reduziert. Und 17 Minuten sind schon sportlich, da man ja seit Jahren einen ausgedehnten Spaziergang um den Baustellen-Bahnhof herum machen darf. Sicher soll man die Bauarbeiten bewundern?

Und ich als Gehbehinderter brauche natürlich auch noch etwas länger als "normale" Menschen.

Eine Minute zu spät am Gleis. Der Zug steht noch da, einige Leute würden gerne noch einsteigen, er macht aber die Türen nicht mehr auf und rollt dann langsam los. Na klar, die Bahn fährt ja immer pünktlich. Zumindest dann, wenn man ausnahmsweise einmal Unpünktlichkeit zu schätzen wüsste.

Nächster Zug: eine Stunde später am selben Gleis.

Wenn ich gewusst hätte, was dieser verpasste Zug am Ende für meine Fahrt bedeuten würde! Ich glaube, ich wäre weinend zusammengebrochen … aber weiter im Text.

Was man so sieht, in einer Stunde Wartezeit: auf unserem Gleis soll ein ICE nach München fahren, der hat 70 Minuten Verspätung. Ha! Das kann mir nicht passieren.

Ein weiterer ICE nach München wird angekündigt: 20 Minuten Verspätung, weil man Behinderten beim Ein- und Ausstieg helfen musste. Deshalb 20 Minuten? Wie viele Rollstuhlfahrer sollen das gewesen sein?

Da unser Gleis belegt ist, hält er auf dem Gleis gegenüber, kein großes Ding für die Passagiere.

10 Minuten vor Abfahrt checke ich zum x-ten Mal die App: mein Zug ist pünktlich und fahrt auf Gleis 15. Alles gut. 2 Minuten später erfolgt eine Durchsage: mein Zug fährt nun von Gleis 12. Die App und auch die Anzeige am Bahnsteig wissen davon nichts. Also Bahnsteig entlang hetzen und durch das Gewimmel der baustellen-verwirrten Leute auf Gleis 12.

Ich bekomme sogar einen Sitzplatz, trotz des großen Gedränges. Nur ein Klappsitz im Fahrradabteil, aber immerhin. Bis Ulm geht das schon.

Der Zug ist randvoll und der Schaffner droht mehrmals mit dem Rauswurf einzelner Fahrgäste und dem Einschalten der Polizei, weil anscheinen trotz des Gedränges einige Fahrgäste nicht bereit sind, Ihrem Gepäck den angenehm weichen Platz an ihrer Seite zu verwehren.

Dazu kommen zahlreiche Radfahrer, die ihre Velos so in den Raum stellen, dass kein Durchkommen mehr ist.

Plochingen

Bis Ulm geht das schon? Möglich, nur der Zug kommt nie bis Ulm: in Plochingen kommt eine Durchsage, dass es wegen eines Notarzteinsatzes am Gleis – vulgo: ein Selbstmord – bis 22 Uhr kein Weiterkommen geben wird. Man könne ja sitzenbleiben oder sich „die Beine vertreten“. Es ist etwa 18 Uhr! Hinweise auf Alternativen gibt es nicht.

Nach einer halben Stunde ohne weitere Durchsagen steige ich aus. Das Bahnpersonal auf dem Bahnhof scheint wie das im Zug auf Tauchstation gegangen zu sein. Unter Passagieren machen sich Gerüchte breit, es gebe Ersatzbusse nach Ulm.

Dann erwähnt jemand, der sich hier auskennt – also sicher kein Bahnangestellter – dass die Strecke nach Wendlingen befahrbar sei und man dort nach Ulm umsteigen könne. Prima!

Der Zug nach Wendlingen fährt ein, Hunderte Menschen wollen einsteigen, gelingen wird es nur einzelnen, denn der Zug ist bereits gestopft voll! Ich komme nicht rein. Ehrlich gesagt, ich versuche es erst gar nicht, denn man hat nur eine minimale Chance, wenn zufällig eine Tür genau dort hält, wo man steht – und wenn man dann noch das Geschubse und die Ellenbogen verträgt, die hier gerne genutzt werden. Das schaue ich mir lieber aus sicherer Entfernung an.

Schienenersatzverkehr mit dem Bus? Ich suche, doch es gibt nirgendwo einen Hinweis, wo solche Busse – wenn es sie denn gibt – wohl abfahren sollten. Sonst kenne ich die Schilder „SEV“ mit Richtungspfeil. In Plochingen gibt es diese wohl nicht?

Also zurück in den Bahnhof und den nächsten Zug nach Wendlingen probieren. Diesmal komm ich tatsächlich rein, obwohl die Einstiegsbereiche von Menschen dicht sind. Man muss schon ordentlich drücken! Die 15 Minuten sind auch stehend (Erinnerung: gehbehindert) im dichten Gedränge und mit an-die-Tür-gepresster Nase auszuhalten.

In der gesamten Zeit, die ich im schönen Plochingen verbringen darf, fahren übrigens ICEs mehr oder weniger ungehindert durch. Es gibt also freie Gleise, aber eben nur für den Fernverkehr. Beim Nahverkehr gibt es ja keine Strafen für die Bahn …

Ich denke, es bedarf keiner Erwähnung, dass neben dem verschwundenen Bahnpersonal auch keine Durchsagen am Gleis gemacht wurden (wir auch, ohne Personal), die Anzeigen nichts erkennen ließen, und die Bahn App (DB Navigator) keine Störungen anzeigte. Kleiner Scherz der App: Folgezüge nach Ulm wurden weiterhin als pünktlich angezeigt!

Wendlingen

Der Zug hat – Überraschung – Verspätung. In Wendlingen bleibt eine Minute Umsteigezeit. Zum Glück ist es das Gleis gegenüber. Niemand schmeißt mich beim Gedränge des Aussteigens um, einige versuchen aber doch gerne, noch vor dem lahmen Gehbehinderten herauszukommen, obwohl ich direkt an der Tür stehe. Wir schaffen es alle in den Anschlusszug hinein. Hurra, Ulm wir kommen!

Ich versuche, durch das Gedränge in den Einstiegsbereichen zu den Sitzen zu gelangen, und irgendwann schaffe ich es. Erstaunlicherweise ist der Gang menschenleer, während im Eingangsbereich kaum das Atmen möglich ist. Die Sitzplätze sind natürlich alle besetzt, und niemand steht freiwillig für einen Gehbehinderten auf.

Einen ausgewiesenen Platz für Behinderte sehe ich nicht. Da steht doch tatsächlich jemand für mich auf! Der Anstand, der den Deutschen dieser Tage anscheinend komplett abhandengekommen ist, bei den Türken gibt es ihn noch. Auch sonst sind es meist „Menschen mit Migrationshintergrund“, die mir einen Platz anbieten. Vielleicht sind sie deshalb bei den „Bio-Deutschen“ nicht so beliebt?

Ulm

Der Zug hat … Verspätung. Macht aber nichts, ich habe trotzdem noch 25 Minuten Umsteigezeit. Der reinste Spaziergang, und der erste entspannte Moment dieser Reise.

Mein Zug steht schon bereit, ich kann also gemütlich drin setzen und auf die Abfahrt warten.

Unterwegs halten wir an zwei Bahnhöfen länger, um Fernverkehrszüge durchzulassen. Aich hier kommt die Empfehlung, sieh derweil „die Beine zu vertreten“. Ist das eigentlich ein Euphemismus für „eine Zigarette durchziehen“?

Augsburg

Ich hätte nie gedacht, dass ich es heute noch bis hier schaffe! In Plochingen hatte ich ernsthaft erwogen, wieder zurück nach Stuttgart zu fahren. Ach, Plochingen, das ist ja schon ewig her! War das heute?


 

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